Giuliano da Sangallos Architektur der Fläche
Fläche
Wie viele Architekten des Florentiner Quattrocento, absolvierte Giuliano da Sangallo eine Ausbildung als legnaiolo – eines Holzschnitzers und Holzarbeiters. Noch bevor er als Architekt arbeitete, schnitzte er Kruzifixe, gestaltete Rahmen und baute Architekturmodelle aus Holz. Man hat deshalb auch den von ihm entworfenen Bauten oft einen “hölzernen” Charakter zugeschrieben. Selbst wenn sich sein Gestaltungswille in abstrakteren Projekten als lineamenta (gezeichnete Linien) niederschlägt, verlässt er niemals ganz den von ihm eingeschlagenen Weg. Er begreift architektonische Bauten als klar geschnittene, schachtelgleiche Volumen, die von einer fortlaufenden Fläche umhüllt werden, welche wiederum als Auflage für ein reiches und heterogenes Ornament dient. Diese Behandlung der Fläche findet sich sowohl in der zweidimensionalen Fassade des Palazzo Cocchi, aber auch in der mit Figuren versetzten Hoffassade des Palazzo Scala; ebenso in den Vorhallen der Kirche Santa Maria dell’Umiltà oder der Sakristei von Santo Spirito mit ihren bearbeiteten Steinen oder in den zahlreichen Gewölben, die von Kassetten und Stukkaturen gezeichnet sind. Gleiches gilt für die strengeren und schlichteren Architekturen, wie die Kuppel des Sanktuariums von Loreto, die unübersehbar auf Brunelleschis Vorbild zurückgreift. Giuliano da Sangallos Flächenarchitektur ist vor allem Ausdruck einer unverwechselbaren Florentiner Architekturtradition. Das wird deutlich in dem glatten schmucklosen Putz von Santa Maria Maddalena dei Pazzi oder in der Zweifarbigkeit der Sakristei von Santo Spirito. Den Höhepunkt erreicht sie jedoch in der filigranen Behandlung der Fassade des Palazzo Gondi, in der virtuosen Koordinierung der flachen Steinquader mit dem abnehmenden Bossenwerk im Erdgeschoss. Andernorts führt sein architektonisches Gespür, mit stärkerem mediceiischen oder laurentianischen Akzent, zu mit Marmor verkleideten oder mit Mustern aus polychronen Kompartimenten gestalteten architektonischen Schöpfungen, die Sangallo zusätzlich ornamental gestaltete. Sangallos Umgang mit Fläche ist der Beginn eines architektonischen Ansatzes, der sich durch das ganze italienische 16. Jahrhundert zieht, als toskanisches Gegenstück zum tektonischen Klassizismus.
Florenz, Palazzo Cocchi Serristori, Seitenfassade. Foto: Ralph Lieberman, 1990, Silbergelatineabzug, 25,7 x 20,3 cm, Inv. Nr. 485661
Florenz Palazzo Gherardesca, ehemals Scala, Innenhof. Foto: Luigi Artini, 1985, Silbergelatineabzug, 23,7 x 17,8 cm, Inv. Nr. 405081
Loreto, Santuario della Santa Casa, Kuppel. Foto: Giuseppe Marchini, vor 1936, Silbergelatineabzug, 23,5 x 17,4 cm, Inv. Nr. 110269
Florenz Santa Maria Maddalena dei Pazzi, ehemals Cestello. Foto: Ralph Lieberman, 1998, Silbergelatineabzug, 22,2 x 25,2 cm, Inv. Nr. 550367
Florenz, Santo Spirito, Sakristei. Foto: Fratelli Alinari, vor 1896, Silbergelatineabzug, 24,7 x 18,9 cm, Inv. Nr. 56961
Prato, Santa Maria delle Carceri, Kuppel. Foto: Luigi Artini, 1985, Silbergelatineabzug, 17,6 x 23,6 cm, Nr. 423938
Pistoia, Madonna dell’Umiltà, Kuppel des Vestibüls. Foto: Cristian Ceccanti, 2014, Digitalfotografie, Inv. Nr. 614495
Florenz, Santo Spirito, Vestibül der Sakristei, Deckengewölbe. Foto: Cristian Ceccanti, 2014, Digitalfotografie, Inv. Nr. 614470
Florenz, Palazzo Gherardesca, ehemals Scala, stukkiertes Tonnengewölbe (Ausschnitt). Foto: Luigi Artini, 1982, Silbergelatineabzug, 17,9 x 23,9 cm, Inv. Nr. 405083
Florenz, Palazzo Gondi, Deckenfeld über der Treppe. Foto: Luigi Artini, 1981, Silbergelatineabzug, 23,7 x 17,9 cm, Inv. Nr. 417468
Florenz Palazzo Gondi, Detail der Fassade. Foto: Ralph Lieberman, 1990, Silbergelatineabzug, 20,3 x 25,2 cm, Inv. Nr. 485681